»Undir jörð« (Unter der Erde), © Sigurður Atli Sigurðsson
Während meiner Recherchen in Reykjavík besuchte ich auch die Crymo Gallerí, einen kleinen artist-run space im Herzen der Stadt. Wie ich die einladenden Räume betrat, wurde meine Aufmerksamkeit — ich weiß es noch ganz genau — sofort gänzlich von einem Bild eingenommen, das auf einer vollgehangenen Wand nur wenige Zentimeter über dem Boden angebracht war. Wer denn der Künstler sei, fragte ich die junge Dame im Büro nebenan, das mehr einem Wohnzimmer denn einem Arbeitsplatz gleichte. »Das ist Sigurður Atli Sigurðsson. Er ist gerade da, warte, ich stell ihn dir vor.«
Ein junger Bursche, der, wie sich herausstellte, sogar jünger war als ich, stand dann vor mir und so kam ich nicht aus dem Staunen heraus, dass jemand aus dem Jahrgang 1988 solch energetische Arbeiten wie »Undir jörð« (Unter der Erde) anfertigen konnte. Wir kamen kurz ins Gespräch und wie ich erfuhr, existierten noch mehr Werke dieser Art in der Reihe »Handfylli af jörð« (Eine Handvoll Erde), die allesamt diese eigenartige Stimmung zu eigen hatten.
Ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken, dieses Werk mit nach Hause zu nehmen, doch — welch ein Glück für mein Konto — es war unverkäuflich. Denn »Undir jörð« hatte es mir angetan, es nahm mich sofort in Besitz. Wie mir Sigurður erzählte, fand er einst in Marseille einen Fotofilm, entwickelte ihn und nutzte diese fremden Fotos fortan für seine eigenen Arbeiten.
»Undir jörð« etwa zeigt zwei Gestalten in der Metro: vor der Kamera herumalbernde, partywillige Nachteulen, die mehr an Zombies denn an lebendige Gestalten erinnern. Sie glotzen in die Kamera; ihre teils schaurigen, teils lächerlichen Fratzen lassen sie zu magischen Kreaturen werden, die fernab von räumlichen oder zeitlichen Dimensionen zu existieren scheinen. »Undir jörð« erscheint auch nicht zuletzt wegen der schemenhaften Umrisse wie ein gespenstisches, zeitloses Dokument aus einer andersartigen, doch aber nicht allzu fernen Welt.
»(o o)«, © Sigurður Atli Sigurðsson
Dann gibt es wiederum andere Arbeiten wie »(o o)«, wo Sigurður auch ohne fotografische Grundlage seine so charakteristischen Gesichter malt. Auch hier blickt uns eine dieser schaurigen Fratzen an, die an indianische Schamanen erinnern. Wie deren bunte Masken erscheinen die Gesichter der Porträtierten, »(o o)« etwa trägt zudem ein Federkleid über den Schultern.
Doch ebenso wie in »Undir jörð« sind dies nicht etwa Maskierte, man schaut hier in unverhüllte Gesichter von Geistern oder zu Geistern gewordenen Personen. Die eigentlich furchterregende Erscheinung geht jedoch eigenartigerweise in eine gewisse Ruhe auf, die nicht zuletzt durch die Pose eines Porträtierten entsteht. Dieser Geist setzt nicht etwa zum nächsten Spuk an, er steht ganz brav vor uns, als wolle er sich uns in aller Förmlichkeit vorstellen.
Dabei zeichnet Sigurður keineswegs das Bild eines sympathischen Gegenüber. Der Geist behält weiterhin seine fürchterliche Wirkung, die gerade dadurch verstärkt wird, dass sein Gesicht und seine ganze Erscheinung in vagen Formen gehalten sind. Augen, Mund und Nase sind noch erkennbar, alles Weitere geht in einem ungewissen Farbmeer unter und trägt zur schauderhaften Aura des Wesens bei.
Titel unbekannt, © Sigurður Atli Sigurðsson
In einer anderen Arbeit, deren Titel mir leider nicht bekannt ist, geht Sigurður noch weiter. Ebenso entstanden wie »Undir jörð«, bearbeitete er ein Foto einer Frau nach, das man in dieser Machart wohl in jedem Familienalbum wiederfinden kann. Hier verzichtet Sigurður jedoch auf seine kunstvolle, farbliche Ausgestaltung. Die hastig, mitunter auch ein wenig naiv wirkenden Kritzeleien im Gesicht der Frau wirken um einiges dramatischer als die obigen Beispiele. Die verschwommenen Umrisse der farbigen Gesichter weichen hier chaotischen, wilden Strichen. Erinnerten die farbigen Fratzen an indianische Geister, bewirken die hier wesentlich abstrakteren Züge eine noch stärkere Befremdung.
Dennoch wohnt auch dieser Arbeit diese seltsame Magie inne, die alle genannten Werke vereint. Es gibt viele Künstler, die das eindrucksvolle Instrument des »Defacings« einsetzen und dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Sigurðurs Einsatz dieser Technik unterscheidet sich von diesen Beispielen jedoch in dem Punkt, dass er den Gesichtern nicht etwa ihre Ausdruckskraft nimmt, indem er sie gänzlich entstellt oder verdeckt, er verleiht ihnen eine zusätzliche Energie, die auch das ganze Werk atmet.
Während bei den verlinkten Beispielen das Interesse im Magritte’schen Sinne1 auf das gelenkt wird, was sich hinter der Maskerade befindet, steht diese bei Sigurður im Vordergrund und wird bald nicht mehr als solche, sondern als eigentliches Realbild wahrgenommen. Dadurch zeigt er nicht zuletzt auch das, was anderswo nur gesucht, aber nicht gefunden werden kann: das, was hinter der all den verdeckenden Schichten steckt.
Über meinem Schreibtisch hängt ein Schwarz-Weiß-Foto vom Hotel Michelberger (nochmals danke, Sara!), das, mitten im Berliner Partystadtkern gelegen, auf dieser Aufnahme auf einer Leuchtreklame die weithin bekannten Worte »I feel so funny — is this real life?« zitiert. Häufiger werden dort Internetlegenden aufgegriffen, doch dieser eine Ausspruch bringt für mich dasselbe zum Ausdruck wie Sigurðurs »Undir jörð«: Hier wird das großstädtische Partyleben verzerrt und porträtiert, das weniger charmante Gesicht des ihm angehörigen Partyvolk enthüllt. Was die Fotografie durch umgedeutete Worte erreicht, schafft Sigurður mit seinen befremdlichen Fratzen.
Obgleich ich mich selbst zu dieser Spaßgeneration zählen muss und nicht fern der üblichen »Szeneviertel« wohne, haben beide eine gewisse Bedeutung für mich, die wichtig genug ist, dass ich damit meine Wände behänge. Doch wie eingangs schon erwähnt: Mein Konto hat’s gedankt, dass »Undir jörð« unverkäuflich ist…
1 Über sein Gemälde »Le fils de l’homme« sagte Magritte:
»Chaque chose que nous voyons en cache une autre, nous désirons toujours voir ce qui est caché par ce que nous voyons.« (Jedes mal, wenn wir etwas sehen, das etwas anderes verdeckt, wollen wir wissen, was sich dahinter verbirgt.)
Toller Post. finde ich unglaublich gut die Arbeiten.