Sigurðurs Fratzen

04. Oktober 2010 von Matthias Planitzer
"Undir jörð" (Unter der Erde), © Sigurður Atli Sigurðsson Während meiner Recherchen in Reykjavík besuchte ich auch die Crymo Gallerí, einen kleinen artist-run space im Herzen der Stadt. Wie ich die einladenden Räume betrat, wurde meine Aufmerksamkeit - ich weiß es noch ganz genau - sofort gänzlich von einem Bild eingenommen, das auf einer vollgehangenen Wand nur wenige Zentimeter über dem Boden angebracht war. Wer denn der Künstler sei, fragte ich die junge Dame im Büro nebenan, das mehr einem Wohnzimmer denn einem Arbeitsplatz gleichte. "Das ist Sigurður Atli Sigurðsson. Er ist gerade da, warte, ich stell ihn dir vor." Ein junger Bursche, der, wie sich herausstellte, sogar jünger war als ich, stand dann vor mir und so kam ich nicht aus dem Staunen heraus, dass jemand aus dem Jahrgang 1988 solch energetische Arbeiten wie "Undir jörð" (Unter der Erde) anfertigen konnte. Wir kamen kurz ins Gespräch und wie ich erfuhr, existierten noch mehr Werke dieser Art in der Reihe "Handfylli af jörð" (Eine Handvoll Erde), die allesamt diese eigenartige Stimmung zu eigen hatten.

Sigurður Atli Sigurðsson: Undir jörð (Unter der Erde)»Undir jörð« (Unter der Erde), © Sigurður Atli Sigurðsson

Wäh­rend mei­ner Recher­chen in Reykja­vík besuch­te ich auch die Crymo Gal­le­rí, einen klei­nen artist-run space im Her­zen der Stadt. Wie ich die ein­la­den­den Räu­me betrat, wur­de mei­ne Auf­merk­sam­keit — ich weiß es noch ganz genau — sofort gänz­lich von einem Bild ein­ge­nom­men, das auf einer voll­ge­han­ge­nen Wand nur weni­ge Zen­ti­me­ter über dem Boden ange­bracht war. Wer denn der Künst­ler sei, frag­te ich die jun­ge Dame im Büro neben­an, das mehr einem Wohn­zim­mer denn einem Arbeits­platz gleich­te. »Das ist Sigurður Atli Sigurðs­son. Er ist gera­de da, war­te, ich stell ihn dir vor.«

Ein jun­ger Bur­sche, der, wie sich her­aus­stell­te, sogar jün­ger war als ich, stand dann vor mir und so kam ich nicht aus dem Stau­nen her­aus, dass jemand aus dem Jahr­gang 1988 solch ener­ge­ti­sche Arbei­ten wie »Undir jörð« (Unter der Erde) anfer­ti­gen konn­te. Wir kamen kurz ins Gespräch und wie ich erfuhr, exis­tier­ten noch mehr Wer­ke die­ser Art in der Rei­he »Hand­fyl­li af jörð« (Eine Hand­voll Erde), die alle­samt die­se eigen­ar­ti­ge Stim­mung zu eigen hatten.

Ich spiel­te ernst­haft mit dem Gedan­ken, die­ses Werk mit nach Hau­se zu neh­men, doch — welch ein Glück für mein Kon­to — es war unver­käuf­lich. Denn »Undir jörð« hat­te es mir ange­tan, es nahm mich sofort in Besitz. Wie mir Sigurður erzähl­te, fand er einst in Mar­seil­le einen Foto­film, ent­wi­ckel­te ihn und nutz­te die­se frem­den Fotos fort­an für sei­ne eige­nen Arbeiten.

»Undir jörð« etwa zeigt zwei Gestal­ten in der Metro: vor der Kame­ra her­um­al­bern­de, par­ty­wil­li­ge Nacht­eu­len, die mehr an Zom­bies denn an leben­di­ge Gestal­ten erin­nern. Sie glot­zen in die Kame­ra; ihre teils schau­ri­gen, teils lächer­li­chen Frat­zen las­sen sie zu magi­schen Krea­tu­ren wer­den, die fern­ab von räum­li­chen oder zeit­li­chen Dimen­sio­nen zu exis­tie­ren schei­nen. »Undir jörð« erscheint auch nicht zuletzt wegen der sche­men­haf­ten Umris­se wie ein gespens­ti­sches, zeit­lo­ses Doku­ment aus einer anders­ar­ti­gen, doch aber nicht all­zu fer­nen Welt.

Sigurður Atli Sigurðsson: (o o)»(o o)«, © Sigurður Atli Sigurðsson

Dann gibt es wie­der­um ande­re Arbei­ten wie »(o o)«, wo Sigurður auch ohne foto­gra­fi­sche Grund­la­ge sei­ne so cha­rak­te­ris­ti­schen Gesich­ter malt. Auch hier blickt uns eine die­ser schau­ri­gen Frat­zen an, die an india­ni­sche Scha­ma­nen erin­nern. Wie deren bun­te Mas­ken erschei­nen die Gesich­ter der Por­trä­tier­ten, »(o o)« etwa trägt zudem ein Feder­kleid über den Schultern.

Doch eben­so wie in »Undir jörð« sind dies nicht etwa Mas­kier­te, man schaut hier in unver­hüll­te Gesich­ter von Geis­tern oder zu Geis­tern gewor­de­nen Per­so­nen. Die eigent­lich furcht­erre­gen­de Erschei­nung geht jedoch eigen­ar­ti­ger­wei­se in eine gewis­se Ruhe auf, die nicht zuletzt durch die Pose eines Por­trä­tier­ten ent­steht. Die­ser Geist setzt nicht etwa zum nächs­ten Spuk an, er steht ganz brav vor uns, als wol­le er sich uns in aller Förm­lich­keit vorstellen.

Dabei zeich­net Sigurður kei­nes­wegs das Bild eines sym­pa­thi­schen Gegen­über. Der Geist behält wei­ter­hin sei­ne fürch­ter­li­che Wir­kung, die gera­de dadurch ver­stärkt wird, dass sein Gesicht und sei­ne gan­ze Erschei­nung in vagen For­men gehal­ten sind. Augen, Mund und Nase sind noch erkenn­bar, alles Wei­te­re geht in einem unge­wis­sen Farb­meer unter und trägt zur schau­der­haf­ten Aura des Wesens bei.

Sigurður Atli Sigurðsson: Titel unbekanntTitel unbe­kannt, © Sigurður Atli Sigurðsson

In einer ande­ren Arbeit, deren Titel mir lei­der nicht bekannt ist, geht Sigurður noch wei­ter. Eben­so ent­stan­den wie »Undir jörð«, bear­bei­te­te er ein Foto einer Frau nach, das man in die­ser Mach­art wohl in jedem Fami­li­en­al­bum wie­der­fin­den kann. Hier ver­zich­tet Sigurður jedoch auf sei­ne kunst­vol­le, farb­li­che Aus­ge­stal­tung. Die has­tig, mit­un­ter auch ein wenig naiv wir­ken­den Krit­ze­lei­en im Gesicht der Frau wir­ken um eini­ges dra­ma­ti­scher als die obi­gen Bei­spie­le. Die ver­schwom­me­nen Umris­se der far­bi­gen Gesich­ter wei­chen hier chao­ti­schen, wil­den Stri­chen. Erin­ner­ten die far­bi­gen Frat­zen an india­ni­sche Geis­ter, bewir­ken die hier wesent­lich abs­trak­te­ren Züge eine noch stär­ke­re Befremdung.

Den­noch wohnt auch die­ser Arbeit die­se selt­sa­me Magie inne, die alle genann­ten Wer­ke ver­eint. Es gibt vie­le Künst­ler, die das ein­drucks­vol­le Instru­ment des »Defa­cin­gs« ein­set­zen und dabei zu unter­schied­li­chen Ergeb­nis­sen kom­men. Sigurðurs Ein­satz die­ser Tech­nik unter­schei­det sich von die­sen Bei­spie­len jedoch in dem Punkt, dass er den Gesich­tern nicht etwa ihre Aus­drucks­kraft nimmt, indem er sie gänz­lich ent­stellt oder ver­deckt, er ver­leiht ihnen eine zusätz­li­che Ener­gie, die auch das gan­ze Werk atmet.

Wäh­rend bei den ver­link­ten Bei­spie­len das Inter­es­se im Magritte’schen Sin­ne1 auf das gelenkt wird, was sich hin­ter der Mas­ke­ra­de befin­det, steht die­se bei Sigurður im Vor­der­grund und wird bald nicht mehr als sol­che, son­dern als eigent­li­ches Real­bild wahr­ge­nom­men. Dadurch zeigt er nicht zuletzt auch das, was anders­wo nur gesucht, aber nicht gefun­den wer­den kann: das, was hin­ter der all den ver­de­cken­den Schich­ten steckt.

 

Über mei­nem Schreib­tisch hängt ein Schwarz-Weiß-Foto vom Hotel Michel­ber­ger (noch­mals dan­ke, Sara!), das, mit­ten im Ber­li­ner Par­ty­stadt­kern gele­gen, auf die­ser Auf­nah­me auf einer Leucht­re­kla­me die weit­hin bekann­ten Wor­te »I feel so fun­ny — is this real life?« zitiert. Häu­fi­ger wer­den dort Inter­net­le­gen­den auf­ge­grif­fen, doch die­ser eine Aus­spruch bringt für mich das­sel­be zum Aus­druck wie Sigurðurs »Undir jörð«: Hier wird das groß­städ­ti­sche Par­ty­le­ben ver­zerrt und por­trä­tiert, das weni­ger char­man­te Gesicht des ihm ange­hö­ri­gen Par­ty­volk ent­hüllt. Was die Foto­gra­fie durch umge­deu­te­te Wor­te erreicht, schafft Sigurður mit sei­nen befremd­li­chen Fratzen.

Obgleich ich mich selbst zu die­ser Spaß­ge­ne­ra­ti­on zäh­len muss und nicht fern der übli­chen »Sze­ne­vier­tel« woh­ne, haben bei­de eine gewis­se Bedeu­tung für mich, die wich­tig genug ist, dass ich damit mei­ne Wän­de behän­ge. Doch wie ein­gangs schon erwähnt: Mein Kon­to hat’s gedankt, dass »Undir jörð« unver­käuf­lich ist…

1 Über sein Gemäl­de »Le fils de l’hom­me« sag­te Magritte:

»Chaque cho­se que nous voy­ons en cache une aut­re, nous dési­rons tou­jours voir ce qui est caché par ce que nous voy­ons.« (Jedes mal, wenn wir etwas sehen, das etwas ande­res ver­deckt, wol­len wir wis­sen, was sich dahin­ter verbirgt.)

Kommentare

  1. Tol­ler Post. fin­de ich unglaub­lich gut die Arbeiten.

Andere Meinungen

  1. […] hat einen groß­ar­ti­gen Post über den islän­di­schen Künst­ler Sigurður Atli Sigurðs­son ver­fasst. Das oben­ste­hen­de „Undir […]