The mob against the prosecution

04. September 2010 von Matthias Planitzer
The mob against the prosecution Die Isländer führen ein beschauliches Leben dort oben im Norden, so weit entfernt vom Festland. Selten dringen Nachrichten aus der kleinen Republik in die restliche Welt, und wenn, dann geht es um gestörten Flugverkehr oder das neuste Sigur-Rós-Album. Eine Angelegenheit, die zwar auch in Deutschland publik wurde, doch gemessen an ihrer Brisanz, kaum Beachtung fand, war der große Bankencrash 2008, der bis heute die isländische Gesellschaft prägt. Stand die isländische Krone im Oktober 2007 noch bei einem Wechselkurs von 85 für einen Euro, ist sie heute nur noch halb so viel wert. Die Arbeitslosigkeitsrate betrug im 2. Quartal 2010 neun gegenüber zwei Prozent im Dezember 2007, entsprechend sank auch die Stimmung über die Jahre in den Keller. Am 8. Dezember 2008 kam es nach langen, von der ganzen Gesellschaft getragenen, öffentlichen Protesten schließlich zur gewaltlosen Stürmung des isländischen Parlaments durch dreißig Demonstranten, woraufhin neun von ihnen festgenommen und von den Abgeordneten angezeigt wurden. Die wahllos herausgepickten Angeklagten warten bis heute auf ihr Urteil, das harte Freiheitsstrafen wegen Störung der Parlamentsbetriebs beinhalten könnte. Unter ihnen befinden sich auch zwei Künstler, die die großen Namen in der isländischen Kunstszene um sich versammelt haben, um eine Soli-Ausstellung für die "Reykjavík 9" auf die Beine zu stellen: "The mob against the prosecution".


The mob against the prosecution

Stand die islän­di­sche Kro­ne im Okto­ber 2007 noch bei einem Wech­sel­kurs von 85 für einen Euro, ist sie heu­te nur noch halb so viel wert. Die Arbeits­lo­sig­keits­ra­te betrug im 2. Quar­tal 2010 neun gegen­über zwei Pro­zent im Dezem­ber 2007, ent­spre­chend sank auch die Stim­mung über die Jah­re in den Kel­ler. Am 8. Dezem­ber 2008 kam es nach lan­gen, von der gan­zen Gesell­schaft getra­ge­nen, öffent­li­chen Pro­tes­ten schließ­lich zur gewalt­lo­sen Stür­mung des islän­di­schen Par­la­ments durch drei­ßig Demons­tran­ten, wor­auf­hin neun von ihnen fest­ge­nom­men und von den Abge­ord­ne­ten ange­zeigt wurden.

Die wahl­los her­aus­ge­pick­ten Ange­klag­ten war­ten bis heu­te auf ihr Urteil, das har­te Frei­heits­stra­fen wegen Stö­rung der Par­la­ments­be­triebs beinhal­ten könn­te. Unter ihnen befin­den sich auch zwei Künst­ler, die die gro­ßen Namen in der islän­di­schen Kunst­sze­ne um sich ver­sam­melt haben, um eine Soli-Aus­stel­lung für die »Reykja­vík 9« auf die Bei­ne zu stel­len: »The mob against the prosecution«.

Video von der Ver­nis­sa­ge zu »The mob against the prosecution«

Poli­tisch tages­ak­tu­el­le Kunst war mir aus Deutsch­land bis­her fremd. In mei­nen Augen schien die­ses Land nicht mehr als die manch­mal fein­geis­ti­gen Kari­ka­tu­ren in den gro­ßen Tages­zei­tun­gen her­vor­zu­brin­gen. Ech­te poli­ti­sche Kunst habe ich bis­her ver­misst. Die Islän­der sind in die­sem Punkt schein­bar ein wenig anders gestrickt, viel­leicht liegt es auch nur an ihrer Kri­sen­si­tua­ti­on, von deren Aus­maß wir in Deutsch­land ver­schont blie­ben. Jeden­falls reagier­te die islän­di­sche Kunst­sze­ne zügig auf den Pro­zess­auf­takt und setz­te mit einer öffent­lich viel beach­te­ten Aus­stel­lung im Living Art Muse­um (Nýló), der Instanz für islän­di­sche Gegen­warts­kunst, ein weit­hin sicht­ba­res Zeichen.

Das Who ist Who der dor­ti­gen Kunst­sze­ne, ins­ge­samt 23 Künst­ler, erstell­te zu die­sem Anlass Arbei­ten und sprach damit sei­ne Soli­da­ri­tät mit den neun Ange­klag­ten aus. Andert­halb Mona­te lang wur­den die Wer­ke aus­ge­stellt, fan­den Per­for­man­ces und Dis­kus­si­ons­run­den zum The­ma statt. Die Aus­stel­lung fand in den Medi­en gro­ße Beach­tung und es bleibt abzu­war­ten, ob sie ihren Zweck errei­chen wird.

The mob against the prosecutionThe mob against the prosecution

Als ich eini­ge Tage vor Ende der Aus­stel­lung das Nýló besuch­te, waren die Wer­ke bereits in einen Neben­raum umge­zo­gen. Dort form­ten sie einen über­aus ver­dich­te­ten Hau­fen aus Kunst, schein­ba­rem Müll, Euro­palet­ten und Absperr­band unter punk­tu­el­ler Spot­be­leuch­tung, sodass es anfangs schwer fiel, die vie­len Ein­drü­cke ein­zu­ord­nen, die die­ses chao­ti­sche Kon­glo­me­rat bot. In diver­sen Win­keln ran­gen Video­in­stal­la­tio­nen um Beach­tung und zwi­schen all dem Müll ver­steck­ten sich die Wer­ke, die zuvor noch an den Muse­ums­wän­den hingen.

Doch das Cha­os hat­te Sys­tem. Was sich da abspiel­te, war ein lau­tes poli­ti­sches Auf­be­geh­ren: Hier wur­de die dys­to­pi­sche Visi­on des Über­wa­chungs­staa­tes her­auf­be­schwo­ren, dort der aus­sichts­lo­se Kampf gegen die Obrig­keit geführt und anders­wo die Absur­di­tät und Bana­li­tät klein­li­cher Recht­ha­be­rei kari­kiert. Alles hübsch ein­ge­bet­tet in den All­tags­müll, der in einer Kri­sen­si­tua­ti­on wie die­ser anfällt: zer­knüll­te »Inspi­red-by-Ice­land«-Pla­ka­te als Zei­chen des hoff­nungs­vol­len Ver­trau­ens auf die Ein­nah­me­quel­le des Tou­ris­mus, alte, über­schüs­si­ge Bau­ma­te­ria­li­en als Mahn­mal für den durch die Kri­se zer­stör­ten Bau­boom sowie Palet­ten und Ver­pa­ckungs­ma­te­ri­al als Sym­bol für den durch das Außen­han­dels­de­fi­zit nach­hal­tig geschwäch­ten Exportsektor.

The mob against the prosecutionThe mob against the pro­se­cu­ti­on (»Para­dís­ar­mis­sir«: »Das ver­lo­re­ne Paradies«)

Hier häuft sich an, was einst die islän­di­sche Wirt­schaft vor­an­trieb, Über­res­te einer einst so schil­lernd auf­stei­gen­den Öko­no­mie. Dazwi­schen und mit­un­ter nicht leicht zu erspä­hen, braut sich der Pro­test zusam­men. Sub­ver­siv, doch laut­stark drin­gen die­se Stim­men aus den Trüm­mern her­vor und for­mie­ren sich zu einer Kraft, die ihre For­de­run­gen selbst­be­wusst vor­trägt: Ent­mach­tung der Ver­ant­wort­li­chen, Schutz der bür­ger­li­chen Inter­es­sen, Soli­da­ri­tät mit den neun Angeklagten.

Als auf mei­ner Rei­se durchs Hoch­land der Über­land­bus wegen eines Motor­scha­dens im Nie­mands­land lie­gen blieb, erzähl­te mir der Bus­fah­rer viel dar­über, wie die Islän­der die nun schon seit Jah­ren andau­ern­de Kri­sen­si­tua­ti­on erle­ben. Er schil­der­te mir die bezeich­nen­de Anek­do­te vom Bau­pro­jekt »Höfða­torg«, einem 72m hohen, glä­ser­nen Büro­turm im Zen­trum Reykja­víks. Wäh­rend des gro­ßen Bau­booms errich­tet, trieb die Kri­se die Eigen­tü­mer in den Ruin. Bis heu­te bleibt das Gebäu­de unge­nutzt und leer und erin­nert, wie er mir sag­te, immer wenn die Son­ne durch die Glas­fas­sa­den scheint, an den schnel­len Auf­stieg und Fall der islän­di­schen Wirtschaft.

Aus sei­nen Aus­füh­run­gen und Bei­spie­len wur­de klar, dass die Islän­der ihre der­zei­ti­ge Lage mit viel Schmerz hin­neh­men müs­sen. Sar­kas­mus und Gal­gen­hu­mor trös­ten kurz über die all­ge­mei­ne Ver­bit­te­rung hin­weg, Zusam­men­halt und die Besin­nung auf alte Wer­te fokus­sie­ren auf das Licht am Ende des Tunnels.

Die Islän­der machen eine schwe­re Zeit durch. Ein Volk, das sich seit jeher durch sei­ne Einig­keit aus­zeich­net, steht nun geschlos­sen hin­ter den For­de­run­gen der Demons­tran­ten, die einst bei­na­he täg­lich auf dem Aus­tur­völ­lur, dem Vor­platz des Par­la­ments, gegen die geschei­ter­te Wirt­schafts­po­li­tik auf­tra­ten. Dass ein wahl­los her­aus­ge­grif­fe­ner Teil jener Leu­te nun hohe Frei­heits­stra­fen für ein Ver­ge­hen erwar­ten muss, das in den Augen der meis­ten Islän­der nur dem Bür­ger­recht, jeder­zeit Zutritt zum Par­la­ment zu erhal­ten, ent­spricht, erzeug­te frei­lich wei­te­re Proteste.

Beein­dru­ckend war für mich jedoch, dass die­se Soli­da­ri­täts­be­we­gung auch in Win­des­ei­le die Kunst erfasst hat­te. Poli­ti­sche Kunst war mir aus Ber­lin bis­her nicht bekannt. Für die Islän­der scheint Kunst viel­leicht mehr als hier als Mei­nungs­in­stru­ment zu die­nen, das im Gegen­satz zu den eta­blier­ten Medi­en einen ande­ren, viel­leicht volks­nä­he­ren Kanal öff­net. Inter­es­san­ter­wei­se soll­te sich die­ser Ein­druck in einem wei­te­ren Pro­jekt des Nýló bestä­ti­gen: »Old news« — dazu spä­ter mehr.