»Der letzte Ausweg«, Oskar Nerlinger (Foto: Volker‑H. Schneider, via SMB)
Mit gemischten Gefühlen betrat ich am Sonnabend Nachmittag die ehrwürdigen Hallen des Kulturforums, schließlich zog mich nur ein einzelnes Bild in die neue Ausstellung »Gefühl ist Privatsache«, die mit 130 Werken einen Überblick über die beiden bedeutenden Stilrichtungen zwischen den Kriegen — der Verismus und der Realismus als Zweige der Neuen Sachlichkeit — geben will. Gemischte Gefühle auch, weil ich skeptisch war, wie man zwei so unterschiedlichen Genres — das eine so energiegeladen und schonungslos und das andere so weltfremd und sehnsuchtsvoll -, gerecht werden kann.
Die »goldenen Zwanziger« wie sie später von jenen genannt wurden, von denen sich die Künstler der Neuen Sachlichkeit und des Verismus distanzierten, waren gerade in Berlin eine überaus turbulente Zeit voller Dekadenz, Hurerei und Exzesse auf der einen und Armut, Arbeitslosigkeit und sozialem Verfall auf der anderen Seite. Ein krasser Kontrast, den wir heute wohl nur noch in Ansätzen nachempfinden können, wir, die romantisierend von »Bohéme« und »Mietskasernen« reden.
Wie also würde sich die aktuelle Ausstellung »Gefühl ist Privatsache« diesem grundlegenden Problem nähern?
Groß ist es ja nicht, das kleine Hinterzimmer im Kulturforum, wo die 130 Gemälde und Skulpturen ihren Platz zugewiesen bekamen. Hätten sie das Fotografieren erlaubt, stünde jetzt an dieser Stelle ein Foto des vollgestopften Kabäuschens. Sei’s drum, so zeige ich halt die Bilder, wie ich sie im Internet fand und habe damit immerhin der Ausstellung voraus, die Exponate nicht eng aneinander gedrängt auszustellen.
Wandert man an den vielen eingezogenen Wänden im Uhrzeigersinn entlang, wird man erst einmal an die Grundlage des Ganzen geführt: Der Krieg, damals nur der Weltkrieg genannt, hatte in der deutschen Kunst erwartungsgemäß einen tiefe Wunde hinterlassen, die von Künstlern wie Otto Dix in verstörenden Zeichnungen festgehalten wurden.
»Tote vor der Stellung bei Tahure«, Otto Dix
Da reiht sich etwa seine bekannte Zeichnung »Tote vor der Stellung bei Tahure« neben ähnlich verstörende Werke mit Granattrichtern oder anderen verwesten Soldaten ein und konfrontiert den Besucher bereits zu Beginn seines Rundgangs mit den Schrecken des maschinisierten Krieges. Zwei deutsche Soldaten, man liest, der eine heiße Unteroffizier Müller, lachen hier zerfetzt und entstellt den daheimgebliebenen Patrioten von 1924 höhnisch entgegen.
Nebenan sehen die Kollegen von der Dada-Fraktion die politische Entwicklung ein wenig zynischer. Der Krieg ist bereits vorbei, Deutschland hat sich politisch wie gesellschaftlich radikal verändert und so finden die Dadaisten im Kapitalismus und Militarismus eine reichhaltige Quelle der Inspiration. Die üblichen Verdächtigen sind an dieser Stelle der Ausstellung in liebloser Aufzählung versammelt, zumeist in Form diverser Titelblätter der einschlägigen Satiremagazine.
Dieses bunte Sammelsurium dadaistischer Beispielwerke, das hier ausgebreitet wird, ist nichts Neues für den, der mit Vorwissen kommt, und ohne Mehrwert für den, der hier was lernen will. Nicht mehr und nicht weniger.
»Krawall der Irren«, George Grosz
Umso besser, dass ein paar Meter weiter noch einmal eine Anzahl Zeichnungen von George Grosz gezeigt werden. Für alle jene, die die große Ausstellung dieses Jahr in der Akademie der Künste verpasst haben, sind Werke wie »Krawall der Irren« wohl ein guter Einstieg in seine Kunst, die mit so viel Wiedererkennungswert daher kommt, wie kaum einer seiner Kollegen für sich verbuchen kann.
Gerade dieses Bild hat bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen, wo ich doch Grosz bisher nur für seine düsteren Malereien kannte. Zur Zeit des Krieges erstellt, widmet sich diese Zeichnung dem viehischen Charakter, der in solchen Zeiten bei manchem zum Vorschein kommt. Mit Klauen bewehrt und barbarisch-plumpen Gesichtern behaftet fallen hier die Menschen übereinander her, morden, rauben und vergewaltigen wie vor dem jüngsten Tag. Der (aus unserer gegenwärtigen Sicht) comichafte Charakter unterstreicht diese unmenschliche, wirklichkeitsfremde Szene und trägt doch entscheidend zum Horror dieses Werks bei.

Setzt man seinen Rundgang in der von der Ausstellung vorgegebenen Abfolge fort, wird man ab da lange nichts mehr wirklich interessantes finden. Viele Porträts, die sich in jener Zeit wieder mehr Beliebtheit erfreuen, trifft man hier an. Ein Künstler hat den anderen abgebildet, jeder dabei seinen eigenen Stil eingebracht und doch sieht alles nach ödem Einerlei aus. Möglich, dass andere sich dafür mehr begeistern können, ich tat es nicht.
Wenn man dann den größten Teil der Ausstellung hinter sich gelassen hat, noch vor dem ein oder anderen Akt stehengeblieben ist und die Hingabe eines so manchen vertretenen Künstler bewundert hat, sieht man sich auch schnell den Realisten gegenüber, die entgegen ihrer Kollegen des Verismus sich auf alte Ideale besannen und vornehmlich beschauliche Landschaftsansichten auf die Leinwand brachten.

Ganz zum Schluss dann wartet jenes Bild, für das sich der Eintritt von drei Euro mehr als lohnte. Oskar Nerlinger (oder wie auch in der Pressemitteilung fälschlicherweise Nerliner genannt): ein Name, den keiner kennt. Und doch, sein eindrucksvolles und schonungsloses Werk »Der letzte Ausweg« zeichnet ihn als Meister seines Fachs aus.
Aus der Untersicht springt dem Betrachter sofort die dunkle Gestalt ins Auge, die da in dieser grauen, schattigen Wohnung von der Zimmerdecke hängt. Gleich vor dem Fenster hat sie sich erhängt, bei bestem Blick auf das geschäftige Treiben auf der Straße da unten. All die roten Straßenbahnen, die gelben und weißen Häuser, die knallig-roten Ladenfronten zeichnen da unten ein kunterbuntes Gewimmel, das von hier oben, vom grauen, spartanischen Kämmerlein aus wie blanker Hohn wirkt.
Verrückt diese Welt, in der sich alles so schnell verändert, wo heute schon wieder ein anderes gestern ist, wo man schnell auf der Strecke bleibt, wenn man sich nicht dieser verrückten Endzeitstimmung anschließen will. Ein letzter Ausweg also?
Interessant an diesem Bild fand ich nicht nur die ambivalente Farbgebung, auch die Perspektive ist sehr ungewöhnlich. Man würde unter normalen Bedingungen einen wolkenverhangenen oder vielleicht auch von klammen Schornsteinen durchstochenen und dunklen Rauchschwaden durchpflügten Himmel erwarten. Aber nein, bei Nerlinger sieht die Welt ein wenig anders aus. Hier schaut man schwindelerregenden Blickes und gänzlich schief auf die Straße herab und legt gleichzeitig den Kopf in den Nacken, um diese schlichte Gestalt über sich baumeln zu sehen.
Ein Kunstkniff, der die Dramatik des Bildes um einiges verstärkt und letztlich dazu beigetragen hat, warum ich gut und gerne eine halbe Stunde davor stand.
Wie ich mit gemischten Gefühlen kam, so ging ich auch mit selbigen. Viel mehr als einen kurzen Überblick über jene Zeit hat die Ausstellung nicht gegeben und bis auf die genannten Beispiele war auch kaum etwas erwähnenswertes dabei gewesen. In der Tat waren die vielen Zitate unterschiedlicher Künstler der Zeit (etwa das erste dieser kleinen Sammlung) wesentlich energiegeladener und aussagekräftiger als das Gros der Exponate. Und so kehrte ich dann auch bald von einer Ausstellung heim, die mich nicht so ganz überzeugen konnte.