»Reverse Television — Portraits of viewers«, © Bill Viola
Als ich Mitte Februar in der Temporären Kunsthalle war, die anlässlich der Berlinale die Ausstellung »Autokino« zeigte (und noch zeigt), war Teil der Vorstellung ein Kurzfilm, in dem nichts weiter als eine junge Asiatin vor steril-weißer Studioleinwand gezeigt wurde, wie sie auf den weißen Boden einen Haufen machte. Anfänglich vom schonungslosen Film irritiert, schaute ich mich in der Halle umher und beobachtete die anderen Gäste in den Autos und ihre Reaktionen. Manche schauten gespannt, andere wendeten sich voller Ekel ab, wieder andere rangen dem Film einen gewissen Humor ab. Man konnte ihre Gedanken förmlich hören. Bis ich dann den Blicken einer jungen Frau begegnete.
Was dort stattfand, war ein Rollentausch: Diejenigen, die kamen, um sich die Filme anzusehen, wurden kurzum zu den Hauptdarstellern einer ganz eigenen Szenerie. Andere Menschen beim Beobachten zu beobachten übte wenigstens auf mich und die junge Frau wohl einen größeren Reiz aus als das eigentliche Filmprogramm.
Diese Wendung ist jedoch nichts Neues, jedenfalls nicht in der Kunstwelt. Tatsächlich nähern sich verschiedene Künstler diesem Thema bewusst und erarbeiten dabei unterschiedliche Positionen. Über Fernando Sanchez‹ Videocollage »Me and my girlfriend« hatte ich ja bereits meine Gedanken geäußert und dabei auch über die besondere Situation des Beobachterwechsels geschrieben. Auch andere Künstler widmeten sich diesem Thema, sodass insbesondere in Bezug auf unseren Fernsehkonsum sehenswerte und auch manchmal überraschende Interventionen entstanden.
»Facing a family«, © Valie Export
Allem voran steht in diesem Zusammenhang Valie Export, die ja ohnehin für pointierte, bisweilen polarisierende Kunst steht. Im Februar 1971, als das Fernsehen bereits im medialen Mittelpunkt des bürgerlichen Lebens stand, überraschte sie mit ihrem Werk »Facing a family« (sowie ein weiterer Ausschnitt), das im ORF ausgestrahlt wurde. Darin sieht man eine gutbürgerliche Familie — Vater, Mutter, Sohn und Tochter — vor dem Fernseher versammelt, die Abendnachrichten laufen. Die Kinder werden zu Bett geschickt, diese widersprechen, gehorchen schließlich doch, der Vater schaut andächtig und still in die Röhre und ganz nebenbei entfaltet sich eine Fernsehkultur, die wohl auch noch heute viele Familien kennen. Das Video hält einige Male inne und beleuchtet so die Familie in markanten Augenblicken des Fernsehens.
Man kann in diesem Lehrstück über den Fernsehkonsum auf das Programm im Programm achten, man wird aber das Geschehen vor dem Fernseher interessanter finden. Das trifft einerseits auf die dar- und vorgestellte Familie zu, aber auch auf die eigene. Da »Facing a family« seinerzeit im regulären Fernsehprogramm gezeigt wurde, kann man erahnen, was wohl die überrumpelten Zuschauer gedacht haben müssen. Ihnen wurde mit einem Mal ein Spiegel vorgehalten: Das sind eure Gewohnheiten, dies eure Marotten. So lebt ihr, so seid ihr.
Der Zuschauer mag es — zumindest heute — gewohnt sein, sein Fernsehverhalten reflektieren zu können. Jedoch nie wie in »Facing a family«, nämlich durch das Fernsehen selbst provoziert. Es wird schnell klar, dass der Fernsehapparat eben nicht nur ein Medium darstellt, wie Zeitungen oder Bücher. Er steht schon 1971 im Familienmittelpunkt, versammelt die Familie an einem Ort und vermag so auch zum Standort des familiären Beisammenseins werden.
Was aber, wenn die porträtierten Fernsehzuschauer nicht mehr irgendein Programm verfolgen, sondern den Kreis des Beobachtens schließen?
Elf Jahre nach »Facing a family«, 1982, geht der Amerikaner Bill Viola diesen einen Schritt weiter und markiert mit »Reverse Television — Portraits of Viewers« die nächste Dimension des Beobachtens von Beobachtern. Für dieses Projekt erstellte er 44 Videoporträts (bspw. Portrait No. 21) von Fernsehzuschauern in ihren Wohnungen, die in die Kamera schauen, als handle es sich um einen Fernsehapparat. Die kurzen Videoschnipsel waren dazu bestimmt, das laufende Fernsehprogramm zu unterbrechen und so auch die Zuschauer zu überraschen.
Bei Bill Viola wird die Irritation noch erhöht: Nicht nur, dass mit einem Male ein Fremder auf dem Schirm erscheint, der offensichtlich ebenfalls fernsieht. Zudem scheint dieser dem nichtsahnenden Zuschauer zuzuschauen. Ungleich Valie Exports Intervention stehen sich die Zuschauer mit einem Male gegenüber. Verlief die Richtung des Beobachtens in »Facing a family« noch linear, kehrt sie nun bei Bill Viola wieder zurück und verliert sich in einer kreisförmigen Bewegung, was den Zuschauer wohl sehr irritieren muss. Er verlässt seine Rolle als Rezipient und nimmt unverhofft den gegenteiligen Part an, wird selbst zum Mittelpunkt des Interesses und kann sich nicht im Klaren darüber sein, wer von den beiden Interagierenden letzten Endes der Zuschauer und wer der Darsteller ist.
Es geht also nicht mehr darum, einen Spiegel vorzuhalten, wie es Valie Export tat. Bill Violas Intervention greift einen viel geschützteren Bereich an, wenn er den überrumpelten Zuschauer ins Rampenlicht stellt und dort zum Agieren auffordert. Er hat gar nicht mehr die Wahl, sich der Situation zu entziehen; er ist schon beteiligt, ehe er realisieren kann, was geschehen ist.
Die Tätigkeit des Beobachtens verläuft für gewöhnlich in einer linearen Richtung: Ein Gegenstand wird von einem Zuschauer beobachtet. Die Einseitigkeit dieses Sachverhalts ist insbesondere bei televisuellen Medien in Stein gemeißelt. Umso überraschender ist es, wenn dieses Gesetz aufgehoben wird. In »Facing a family« wird ein Dritter, eine andere Person beim Fernsehen beobachtet; bei Bill Viola dagegen ist man es selbst, der durch den Fernseher beobachtet wird.
Hier zeichnet sich also eine Entwicklung ab, die mitunter noch weitergehen kann. Fernando Sanchez verstärkt die Intimität dieser Situation, zudem wäre es denkbar, dem ahnungslosen Zuschauer statt einer Person wie in »Reverse Television — Portraits of viewers« gleich eine ganzes Publikum vorzuführen.
Und wer weiß: Vielleicht wird uns in ein paar Jahren eine ganz andere Dimension des Beobachtens von Beobachtern überraschen…