»Shoot« (Videoausschnitt), © Chris Burden
Man sagt, eine Gesellschaft finde sich in seiner Kultur, seinen Erzählungen, seiner Musik, seinen Filmen, seiner Kunst wieder. Das Amerika der 50er und 60er Jahre hat — was Kinofilme anbetrifft — heute noch bedeutsame Werke hervorgebracht: »Wege zum Ruhm«, »Bonnie und Clyde« (1967), »Point Blank« (1967), »Spiel mir das Lied vom Tod« (1968). Filme, die Waffengebrauch, Krieg und Tod romantisieren und verklären, zuweilen auch pointieren. Als sich dann in den späten 60er Jahren für den seit 1965 herrschenden Vietnamkrieg ein politisch schmachvolles Ende abzeichnete und das persönliche Leid vieler Amerikaner — ob im Dschungel oder daheim — in den Vordergrund trat, nahm man vom heroisierten Bild der Hollywoodproduktionen Abstand und gewann eine andere Perspektive.
Als der Vietnamkrieg 1971 in der Öffentlichkeit als bereits gescheitert angesehen wurde, erregte ein Kunststudent namens Chris Burden die öffentliche Aufmerksamkeit: Er veröffentlichte einen kurzen Film, den er zu Beginn selbst kommentiert und darin ankündigt, was geschehen werde und worauf zu achten sei. Im Weiteren bleibt das Bild schwarz, nur der Ton bleibt. Dann sieht man Burden vor einer weißen Wand stehen, ein Freund und Kommilitone steht einige Meter vor ihm und zielt mit einem Gewehr auf den Künstler. Er drückt ab, trifft Burden in den Arm und beide verlassen die Szenerie.
»Shoot« nimmt allerdings nicht nur auf die Demaskierung des Krieges Bezug, es fand auch in einer Zeit statt, als in den USA politisch motivierte Attentate eine ernste Bedrohung für die öffentliche Ordnung darstellten — wenige Jahre zuvor wurden Kennedy (1963) und Martin Luther King (1968) auf öffentlichen Kundgebungen erschossen. Darüber hinaus richtet es sich auch an eine Gesellschaft, die in ihrer Verfassung das Recht verankert hat, eine Waffe bei sich zu tragen — mehr noch: »Shoot« bringt auch zum Ausdruck, dass selbst ein Bekannter, gar ein Freund, zum Attentäter werden könnte.
Chris Burden wurde mit »Shoot« schlagartig weltbekannt und hat noch für lange Zeit Performance Art mit ähnlich physischer Tortur geschaffen. (Nicht nur für sich selbst — so nahm er 1972 in »T.V. Hijack« während eines echten Interviews mit ihm die Moderatorin als Geisel, um später darauf hinzuweisen, dass mediale Kontrolle ein Hirngespinst sei.) Dennoch bleibt Burden vor allem für »Shoot« im Gedächtnis, eine Arbeit, die seitdem auch immer wieder von Kollegen neu auf- und ausgelegt wurde.
Einer von ihnen ist der Brite Jonathan Monk, der bekannte Werke anderer Künstler nachstellt, häufig karikiert, zuweilen neu interpretiert. Im Jahre 2006 widmete er sich »Shoot« in seiner eigenen Arbeit »Deadman«. Es besteht aus einer am Boden liegenden Wachsfigur, die Chris Burden ähnelt, mit einem weißen Tuch zugedeckt und einer blutigen Wunde in der rechten Brust. Im Gegensatz zu Burdens Original hat der Schuss nicht wie geplant den rechten Arm getroffen, sondern verfehlt und stattdessen den Kunststudenten getötet.
Der Titel »Deadman« dürfte kein zufälliger sein. Burden hatte unter 1972 demselben Titel eine Performance dargestellt, für die er sich mit einer Plane bedeckt nachts auf eine viel befahrene Straße legte; zwei Warnfackeln neben seinem Kopf, die innerhalb von 15 Minuten schwächer werden und letztlich ganz erlöschen sollten, sodass das Risiko, überfahren zu werden, im Laufe der Zeit zunehmen würde. Diese Performance wurde jedoch schnell von der Polizei abgebrochen, was für Burden eine empfindliche Strafe nach sich zog.
Burden gehörte wohl auch außerhalb seines künstlerischen Daseins den radikaleren studentischen Strömungen seiner Zeit an. So stellt Jonathan Monks »Deadman« einerseits eine Karikatur auf das von Autoaggression geprägte Gesamtwerk Burdens dar, nimmt aber möglicherweise auch Bezug auf das gegenwärtige Phänomen der Schul- und Unimassaker.
So transferierten auch Eva und Franco Mattens Burdens »Shoot« 2007 in einen gegenwärtigen Kontext. Das Künstlerduo hat sich ganz dem Internetzeitalter verschrieben, so etwas das Computervirus als Medium entdeckt oder — wie auch in diesem Fall — in der Reihe »Synthetic Performances« bereits existierende Werke in Second Life nachgestellt. Burdens »Shoot« wird bei ihnen stilisiert, um seine emotionalen Konnotationen beschnitten und von einem physischen auf einen bestenfalls mentalen Level übertragen. In einem Interview heißt es dazu:
What does it mean for you, to work on an online virtual performance?
In Synthetic Worlds, like Second Life, space, matter, body and action are radically different from the »physical world«. Feelings like pain and pleasure are completely abstract, mental.
Spiele wie Second Life als Novum der Gegenwart führen demnach zu einer emotionalen Transformation, vielleicht auch einer Ausdünnung — wer will, kann dieses Phänomen auch in Spielen wie Counterstrike verfolgen. Was 1971 noch in der physischen und realen Welt Aufsehen erregte, kann 2007 im mentalen und virtuellen Kontext kaum einen mehr hinterm Ofen vorlocken, und lässt damit die Frage offen, inwiefern Gewalt, zumindest das Konzept, die Natur dahinter, bagatellisiert werden.
Wieder einmal finde ich es erstaunlich, wie sich ein künstlerisches Motiv im Laufe der Geschichte verändern kann, wie es den gegenwärtigen Gegebenheiten und Ansprüchen angepasst und so umformuliert wird. Chris Burdens »Shoot« und die folgenden Adaptationen spiegeln auch gewissermaßen eine (vermeintliche?) Tendenz der Radikalisierung in Gesellschaft und Kunst wieder.
Burden, der seit 1978 Professor in Los Angeles war, legte zusammen mit seiner ebenfalls dort lehrenden Ehefrau Nancy Rubins im Jahre 2004 aus Protest sein Hochschulamt ab. Der Student Joseph Deutch hatte während einer Vorlesung über Performance Art eine Waffen-Replika an seinen Kopf gehalten, den Saal verlassen und dann einen Feuerwerkskörper gezündet — und die Anwesenden im Glauben gehalten, er habe sich öffentlich umgebracht. Das daraufhin einbestellte Uni-Gremium sah mit 2:1 Stimmen von der Exmatrikulation (wegen Verletzung des Waffenverbots) ab, woraufhin Burden und Rubins auf ihre Ämter verzichteten.
Toller Artikel!